Commentarius de Alpibus: die Gefahren des Gebirges, die Metalle und die Lärche
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von Kevin Bovier und Claire Absil)
Vorrede
Auch wenn Ebenen und Berge in allen Gegenden der Erde begegnen, rührt uns doch die staunenswerte Höhe der letztere emotional mehr an und bringt uns mehr dazu, sie zu bewundern, als es andererseits deren sich hinbreitende Ebenheit tut. Deshalb haben die Menschen des Altertums hochgelegene Orte sehr geeignet für Kultstätten gehalten, weil sie den Menschen eine über das gewöhnliche Mass hinausgende Bewunderung einflössen. Sie glaubten daher allgemein auch, dass auf so hochgelegenen Stätten eine göttliche Kraft heimisch sei. Und nicht nur die Anhänger falscher Götzenkulte, sondern auch die Vorväter des Gottesvolkes, Abraham selbst und Isaak und Jakob und andere Altväter, haben dem wahren Gott ihre Opfer auf Bergen dargebracht. Diese Sitte war so lange gültig, bis Gott das Gesetz erliess, das man ihm nur an einem Ort opfern solle. Bei den Heiden indes haben sich die Dichter, die ihre Naturbetrachtungen in mythologischer Verhüllung der Nachwelt überlieferten, viele bergbewohnende Götter ausgedacht, Faune, Satyrn, den Pan, die Oreaden und viele andere Arten von Nymphen; sie haben mitgeteilt, dass nicht nur diese gleichsam minderrangigen Götter im Gebirge leben, sondern auch die bedeutenderen: Jupiter trägt nämlich den Beinamen «Olympier», und alle höchsten Berggipfel sind ihm heilig. Der zweigipfelige Parnass, der Helikon, der Kytheron, der Pierus, der Nisa und andere Berge wurden von ihnen dem Apoll, den Musen und dem Bacchus geweiht; Merkur ist ein Nachkomme des Atlas. Mit solchen Fabeln wolten sie zweifellos in verhüllter Weise die Macht und die Kräfte der Natur darstellen, die man im Gebirge als ganz ausserodentlich wahrnimmt. Wir aber, die ihre Rätsel nicht erklären können, müssen nichtsdestoweniger bekennen, dass die hohen Berge es ausserordentlich verdienen, dass wir sie betrachten.
Wohin man sich nämlich auch wendet, mit allen Sinnen nimmt man vielerlei Dinge wahr, die unseren Geist anregen und erfreuen. Da ist zum ersten ihre ungeheure Masse, die sich zu einer solchen Höhe auftürmt, die so viele Jahrhunderte hindurch Bestand hat und doch niemals nachlässt oder verschwindet. Wer würde sich nämlich nicht verwundert fragen, auf was für Fundamente sich eine derart mächtige Masse stützt oder wozu die Natur diese überaus hohen Gipfel in die Höhe gezogen hat? Wenn man ihre einzelnen Teile betrachtet, bringen an der einen Stelle schroffe Abhänge oder eine ungeheure Felsschlucht, über Schlünden hängende Felsen, die Jahrhunderte hindurch herabzustürzen drohen, tiefe und undurchdringliche Kluften, wüste und schreckenerregende Höhlen, Gletscher, die sich in vielen Jahrhunderten gebildet haben, die Betrachter zum Staunen. Wenn man seine Aufmerksamkeit aber dem zuwendet, was ensteht und dort entweder geboren wird oder wenigstens dort seine Nahrung erhält, Quellen, Seen, Sturzbäche und ungeheure Flüsse, unzählige Planzenarten, verschiedene Tierarten, wird man dort davon viele herausragende und einzigartige finden. Und derartige Beobachtungen kann jemand, der auch nur mittelmässig aufmerksam ist, in allen Gebirgen machen, in ganz besonderer Weise aber in den Alpen, dem wohl höchsten aller europäischen Gebirge.
Da ich dies öfters bei mir bedachte und oft meine Augen an der angenehmen Betrachtung des Gebirges weidete, von dem wir alltäglich die sichersten Anzeichen für Stürme und heiteres Wetter erbitten, habe ich es für der Mühe wert gehalten, über diese Dinge, deren vollständige Behandlung eine zu grosse Arbeit wäre, wenigstens eine Denkschrift zu verfassen, und ich habe alles, was man sich bezüglich der Alpen einprägen sollte, mir entweder aus der Lektüre guter Autoren gesammelt oder es von glaubwürdigen Männern zugetragen bekommen oder auch mit eigenen Augen gesehen. Ich gehe dabei nicht den Ursachen und Abläufen im Einzelnen nach, wie sie in der Natur verborgen sind, sondern stelle nur nach Art eines Historikers die Sachverhalte der Reihe nach dar; dabei interprtiere ich manchmal auch die Aussagen, die andere über diese Dinge in allzu dunkler Weise oder auch fälschlich der Nachwelt überliefert haben. Ich habe dies aber umso lieber getan, als mir bei meiner Arbeit an meinen Commentarii rerum Helveticarum viele derartige Dinge begegnet sind, die ich, wenn ich sie an dieser Stelle einmal darstelle, später nicht noch einmal bei meiner Beschreibung der einzelnen Alpen bzw. Alpenregionen nicht noch einmal wiederholen muss, was gelangweilten Ekel hervorrufen würde.
Die Gefahr an schlüpfrigen und abschüssigen Stellen
Abschüssige und jäh abfallende Stellen vermehren die schwierigen Eigenschaften der Wege, zumal wenn die Pässe von Eis bedeckt sind; deshalb treffen die Wanderer, Reisenden und Jäger, die häufig durch die weit oben gelegene Bergwelt streifen, in ihrem eigenen Interesse verschiedene Massnahmen. Denn gegen das schlüpfrige Eis pflegen sie eiserne Sohlen, die den Hufeisen der Pferde ähneln und mit drei scharfen Spitzen versehen sind, fest an ihre Füsse zu binden, so dass sie ihre Trittfestigkeit im Eis erhöhen können; andere festigen in vergleichbarer Weise die Riemen, mit denen man Spornen unten am Fuss festmacht, mit einem vorne spitzen Stück Eisen und wenden noch andere Massnahmen an, die der Schlüpfrigkeit Widerstand leisten und einen sicheren Tritt garantieren können. An manchen Orten verwendet man Stöcke, die vorne mit einer eisernen Spitze versehen sind; auf diese gestützt pflegen sie steile Abhänge hinauf- und hinabzusteigen; sie nennen sie „Alpine Stöcke“, und besonders die Hirten bedienen sich ihrer. Manchmal schneiden auch die Hirten und Jäger, wenn sie sich an abschüssigen und beinahe jäh in die Tiefe abfallenden Stellen befinden, wo es sonst keinen Weg gibt, sich Zweige von Bäumen (besonders Tannen) ab, setzen sich darauf und begeben sich gleichsam als Reiter hinab. Sobald aber Lastwagen an derartigen abschüssigen Stellen hinuntergebracht werden müssen, lassen sie sie dank der Kunstfertigkeit der Winden und Flaschenzüge an ungeheuren Seilen hinab. Ammianus Marcellinus gibt an, dies sei bei den Alten üblich gewesen; seine Worte haben wir schon weiter oben bei der Beschreibung der Cottischen Alpen angeführt. Etwas Ähnliches berichtet Lambert von Hersfeld, der erwähnt, mit wie viel Mühe Heinrich IV. die Alpen im Winter überwunden hat und dazu schreibt, man habe die Königin und die Damen aus ihrem Frauengefolge auf Rindshäute gesetzt, und die Reiseführer zogen sie abwärts; auch die Pferde habe man mithilfe von Gerüsten herabgelassen oder ihnen die Füsse zusammengebunden und sie geschleift, und viele von ihnen seien gestorben oder lahm geworden.
Metalle
Über die Metalle der Alpen will ich hier nichts sagen. Ich werde nur das anmerken, dass es aus zwei Gründen feststeht, dass die Alpen reiche Metallvorkommen besitzen: erstens freilich deshalb, weil an den Orten, wo man sie gewinnt, diejenigen, die sich damit beschäftigen, einen sehr reichen Gewinn daraus ziehen, wie an den Flüssen Inn und Etsch und in den Norischen und Rhätischen Alpen; ferner zeigen an den Orten, wo sich keine Gruben befinden, die Flüsse dadurch, dass sie Goldsplitter mit sich führen (z. B. der Rhein, die Reuss und die Emme, dass die Berge, in denen sie entspringen, nicht ohne Metalladern dastehen. Im Übrigen gibt es in der Schweiz fast nur Eisenerzgruben; das Volk widmet sich nämlich hingebungsvoll dem Militärdienst, zieht aber auch daheim aus seinen Rinderherden und seinen Viehweiden einen riesigen Gewinn, und kümmert sich daher nicht um das Metallgewerbe, das es nicht kennt; es duldet auch nicht, dass Ausländer Gruben anlegen, weil es davon ausgeht, dass diese nicht ohne Nachteil für die Allgemeinheit betrieben werden können, weil ganze Wälder zur Gewinnung von Holzkohle gefällt würden , weil die Viehweiden, die in den Bergen von bester Qualität sind, zum grössten Teil zugrundegehen würden, weil das Wasser verschmutzt würde und noch viele andere nachteilige Effekte eintreten würden; zudem will das Volk, das volkreich und auf ein enges Gebiet begrenzt ist, auch sonst nicht eine grössere Anzahl von Fremden in seinem Gebiet aufnehmen, und kann das auch ohne grossen Schaden nicht tun.
Der Lärchenbaum
Dennoch kann ich die Lärche nicht übergehen, die Theophrast und Griechenland unbekannt war und charakteristisch für unsere Alpen ist. Dieser Baum sieht der Tanne, der Pinie und der Kiefer ähnlich; seine Rinde ist härter als die der Kiefer, seine Nadeln sind dicker, weicher und wachsen dichter; er verliert sie aber im Herbst, entgegen der Behauptung des Plinius, der die πευκή Theophrasts als Lärche übersetzt zu haben scheint; mit ihrer Höhe kommt sie verwandten Bäumen gleich und übertrifft sie oft noch. Ein Baumeister aber muss sie nicht weniger hoch schätzen als einen von ihnen, sie trägt das Gewicht von Bauwerken kräftig und dauerhaft, und Giovanni Battista Alberti schreibt, er habe das auch anderswo, ganz besonders aber in Venedig anhand der alten Bauwerke auf dem Marktplatz registriert, und er fügt hinzu, was auch die Alpenbewohner bestätigen, dass sie kräftig sei, widerstandsfähig, in Stürmen ganz fest dastehe und nicht von Fäulnis befallen werde. Wenn man sie schneidet, geht das Eisen leicht hindurch, und deshalb wird sie kunstgerecht behauen und geglättet. Es gibt eine alte Ansicht, die auch von Plinius schriftlich festgehalten wird, dass sie nicht brennt und zu Kohle wird und auf keine andere Weise von der Kraft des Feuers verzehrt wird als Steine; und deshalb befehlen sie, Latten aus Lerchenholz in die Richtung hin aufzustellen, aus der man eine kommende Feuergefahr am meisten fürchtet. Aber ist eindeutig, dass diese Überzeugung falsch ist, weil im Wallis an manchen Orten kein anderes Holz für den Herd verwendet wird; anderswo in den Alpen macht man daraus auch Holzkohle für die Eisenerzgruben. Unter allen Alpenbäumen wird sie ganz besonders für medizinische Zwecke verwendet; man hält sie nämlich für so wirksam gegen die Lepra, dass man glaubt, dass die, die Speise- und Wohnzimmer bewohnen, die mit Lärchenholz getäfelt sind, vor dieser Krankheit sicher sind. Sie kochen auch in den Bädern frische Baumsäfte als Mittel gegen diese Krankheit; man glaubt auch, dass das Wasser, das man aus ihnen mit chemischer Kunst gewinnt, eine wunderbare Kraft besitzt. Ein vorzügliches Lob aber gebührt dem Harz der Lärche, das honigfarben aus dem Baum herausfliesst, wenn man ihn anschneidet. Die Unseren bedienen sich seiner nicht ohne Erfolg anstatt der Terebinthe und das breite Volk bedient sich seiner als eines häuslichen Arzneimittels nicht nur zum Kurieren äusserlich sichtbarer Körperleiden, sondern sie schlucken es auch gegen innere Krankheiten; und es ist gewiss, dass Nieren und Blase durch dieses Heilmittel gereinigt werden, denn im Urin wird sein Geruch leicht erkennbar, wenn man es drei Tage lang zu sich nimmt. Zuletzt wird der Pilz, der an der Lärche wächst, häufig zur Reinigung des Körpers benutzt; die Ärzte nennen ihn agaricum (Lärchenschwamm).