De Helvetiae origine: Wilhelm Tell
Traduction (Allemand)
Traduction: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
Indem er nämlich zwei findet, kommen sie zusammen, beklagen sich über die Ungerechtigkeit des Tyrannen, schliesslich schwören sie sich auch gegenseitig, entweder zu sterben oder die Grausamkeit des Tyrannen zu bestrafen. Unter ihnen aber stach wie eine göttliche Fackel ein sehr tapferer Mann und sehr energischer Verteidiger der vaterländischen Freiheit hervor, Wilhelm Tell, ein Mann, bei dem man sich darüber unschlüssig sein kann, ob Tapferkeit oder Klugheit in ihm überwogen. Zu seinen sehr tapferen Taten fügte er nämlich noch die bedeutende Klugheit seines Geistes hinzu, die bewirkte, dass ohne inneren und bürgerlichen Zwist beseitigt wurde, was, wenn man es zur Unzeit beseitigt hätte, einen erheblichen Zusammenbruch des ganzen Reiches mit sich gebracht hätte. Deshalb trat er als erster heraus und wagte es diesen Sumpf anzugehen, wobei er nach einer Gelegenheit suchte, wie auch immer sie beschaffen sein mochte; es ging ihm ganz darum, seine Heimat von der grausamen Herrschaft der Tyrannen zu befreien.
Eine sehr bequeme Gelegenheit dafür bot ihm jener Hut, der vom Tyrannen als Gegenstand zur Verehrung auf einem Stock angebracht wurde. Wilhelm stachelten deshalb seine Geistesgrösse, seine ausserordentliche Tapferkeit und seine überaus glühende Vaterlandsliebe so sehr an, dass er die blasphemischen Edikte des Tyrannen geringer schätzte als das Vaterland. Deshalb ging er drei- und viermal am Hut vorbei, wobei er durch keine Ehrfurchtshaltung, keine körperlichen Gesten, keinen verehrungsvollen Gesichtsausdruck zum Ausdruck brachte, dass er diesem Hut unterworfen sei; er mässigte dennoch seine Verachtung des blasphemischen Tyrannen durch eine bewundernswürdige Bescheidenheit, so dass dies alles zufällig zu geschehen schien. Dies alles aber (wie es überall Korykäer an den Höfen der Fürsten gibt), gelangte sofort zu den Ohren des Tyrannen, die übler Nachrede offenstanden; dazu kam sehr vieles, was sie zu erfinden schienen, um diese Angelegenheit zu übertreiben; er wird angeklagt wie einer, der eine Majestätsbeleidigung begangen hat.
Aber was soll ich noch viele Worte machen? Jener höchst energische Mann wird herbeigeholt, um vor dem äusserst griesgrämigen Tyrannen seinen Fall zu vertreten. Und dieser Prozess war aus keinem anderen Grunde in Gang gesetzt worden, als aus dem, wegen dessen jener Wolf bei Äsop gegen kleinen Schaf einen Prozess aufgrund der Störung des Wassers begonnen hatte. In diesem Prozess war der Wolf nämlich Ankläger, Zeuge und Richter zugleich. In jenem hatte der Tyrann die Rollen von Ankläger und Richter an sich genommen. Er brachte den Vorwurf der Verachtung und Majestätsbeleidigung vor und fragte nach dem Grund, um anhand dieses Grundes noch einen Anhaltspunkt für eine grausamere Bestrafung zu haben. Wilhelm antwortet heiter, dass sei alles ohne Überlegung geschehen, er habe auch nicht achtgegeben, sondern habe sich um diesen Hut überhaupt nicht gekümmert, da er wegen des Ansturms der Geschäfte gezwungen gewesen sei, von hier nach dort zu laufen. Das enorme Untier hält diese Antwort der Akzeptanz nicht für wert; er wird aufrührerischer Bauer, Neuerer des Staates, Störer der Staatsverwaltung, Verächter der Gesetze und Anführer einer blasphemischen Partei genannt, in den Kerker geworfen, man denkt sich für ihn eine ausgesuchte Bestrafungsart aus, damit die Bauern, von ihrer Grausamkeit erschüttert, es nachher aufgeben, derartiges Begehren nach Neuerungen an den Tag zu legen. Weil sie auf keine Weise etwas Passendes und für eine so grosse Untat Würdiges finden konnten, wollen sie es endlich von Wilhelm selbst erfahren. Er wird gefragt, ob er Kinder habe, und welches von diesen ihm das allerliebste sei. Darauf antwortet er, er habe Kinder, und er liebe besonders sein kleines Söhnlein. Als er das erfahren hatte, dachte sich der höchst unmenschliche Henker eine furchtbare Strafe aus; er zwang nämlich diesen Mann, seinem hundertzwanzig Fuss entfernt stehenden Knaben einen Apfel vom Scheitel seines Hauptes mit einem spitzen Geschoss herabzuschiessen, und ein Danebenschiessen mit der Todesstrafe auszugleichen; oh furchtbare Äusserung, oh monströse Grausamkeit; es mögen nun die griechischen Schriftsteller mit ihren mythologischen Geschichten zurückweichen, es möge ihm die tierische Grausamkeit des Dionysius weichen, es möge ihm weichen der durch das Blut eines Sohnes befleckte Oberbefehl des Manlius, es möge ihm Phalaris weichen zugleich mit Perillus, seinem Erfinder neuer Folterarten. Vergleicht man Nero mit ihm, so kann dieser ihm kaum das Wasser reichen. Was ist nämlich grausamer, o unsterblicher Gott, als einem höchst eifrigen Vater (sowohl des Vaterlandes als auch seiner Kinder) zu befehlen, ihm aufzutragen, ja ihn sogar zu zwingen, einen Apfel, eine so kleine Sache aus einer so grossen Entfernung (wobei er noch durch die Fesseln des Kerkers geschwächt ist und hin und her schwankt) vom Scheitel seines ganz zarten, ihm allerliebsten Söhnchens, das noch nicht die Lebensgefahr versteht, in der es schwebt, mit einem raschen und herumirrenden Geschoss herabzuschiessen. Oh Felsenbrust, oh monströses Wesen, oh Mensch, der durch Grausamkeit berühmt ist, und um Ovid zu zitieren: «Und die Adern um dein Zwerchfell sind aus Kieselstein, / Und deine harte Brust trägt in sich Samen von Eisen, / Und die Amme, die deinem zarten Gaumen einst / Ihre vollen Brüste zum Saugen darreichte, war eine Tigerin.»
[…]
Er [Wilhelm] kletterte in der Zwischenzeit über allerhöchste Berge hinweg und gelangte zu der Königlichen Strasse, von der er wusste, dass der Landvogt durch sie hindurchreiten würde; dort verbarg er sich im Gestrüpp, spannte seinen Armbrust und wartete voller Begierde auf die Ankunft des Vogts. Endlich kam der aufgeblasene Anführer, der wütend dreinblickte; seine Augen sprühen Funken, er knirscht mit den Zähnen, sein Gesicht ist blass, seine Hände und sein ganzer, von übergrossem Zorn gepackter Körper zittern. Er ist empört, dass ihm eine solche Beute durch die Lappen gegangen ist. Er ist erzürnt, dass ein so bedeutender Mann, dessen Tapferkeit ihm ganz besonders Furcht bereiten muss, seinem Zugriff entwischt ist. Er tobt auch und verwünscht sich selbst, weil er seinem erbittertsten Feind sein eigenes Heil und das seines Gefolges anvertraut hatte. Aber was soll ich noch viele Worte machen? Wenn es gestattet ist, Kleines mit Grossem zu vergleichen, dann hätte man hier sehen können, wie ein zweiter Polyphem mit einem blutigen und von Fäulnis befallenen Maul durchs Gebirge rannte und nach Odysseus suchte. Inzwischen aber, während er, von übergrossem Zorn ergriffen, sein tyrannisches Gesicht den trotzig blickenden Augen Tells zuwendet, schiesst ihn Wilhelm vom Pferd, indem er ihn mit einem spitzen Geschoss, mit dem er auf ihn gezielt hat, durchbohrt. Während aber alle seine Begleiter sich um ihn scharen und sich, durch das unvorhergesehene Übel erschreckt, um ihn kümmern, flieht Wilhelm und kehrt nach Uri zu seinen Verbündeten zurück, legt ihnen den ganzen Sachverhalt dar und ermutigt sie, die in Gefangenschaft geratene Freiheit nun schon wiederherzustellen. Dieser überaus grausame Tyrann aber, für den man keine angemessene Bezeichnung finden kann, haucht in den Armen der Seinen den Geist aus und stirbt. Seine höfischen Begleiter, die sich fürchten und nicht wagen, nach Uri zurückzukehren, begeben sich deshalb nach Luzern. Inzwischen aber haben jene Brutusse und Publicolen, die die Gemüter der Urner mit ihren Volksreden in Wallung bringen, bei den Unterdrückten und Elenden leicht erreicht, was sie wollten, und die Gemüter aller loderten vor glühendstem Hass gegen den ganzen Adel, mit Sicherheit so, dass der römischen Plebs der Königstitel nicht weniger verhasst gewesen ist als diesen der Adelstitel.